von Sharon Berkal
Es ist Anfang März. Bei frischen 9 Grad sitze ich auf dem pittoresken Viktoria-Luise-Platz in Berlin-Schöneberg und warte auf meinen Gesprächspartner Carl Tillessen. Ein Interview im Freien, im Winter, auf einer Parkbank – wie abgehärtet und flexibel wir inzwischen doch sind!
Vor fast genau einem Jahr sind wir in den ersten Lockdown gestartet. Noch gut kann ich mich an meine täglichen Spaziergänge durch die Nachbarschaft und über den Kurfürstendamm erinnern. Leere Straßen, leere Schaufenster, leere Geschäfte. Gespenstisch, surreal, aber auch: irgendwie befreiend. Der erzwungene Verzicht bot Raum, sich und sein Verhalten einmal gründlich zu überdenken. Wer bin ich, wenn ich nicht konsumiere? Was sich wie ein banaler und oberflächlicher Gedanke anhört, muss in Wahrheit doch profund sein. Denn wie sonst kann sich die langen Schlangen vor den Geschäften erklären, sobald sie auch nur für fünf Minuten öffnen dürfen? Wohl kaum, weil die einzige Hose, die wir besitzen, gerissen ist. Ständiger Konsum als Teil unserer Identität? Verstehen Sie mich nicht falsch! Von Diogenes und seiner Tonne bin ich weit entfernt, aber vom gedankenlosen Konsum inzwischen auch. Zeit für neue Wege. Für die Weihnachtfeiertage – das Oktoberfest des Kaufrauschs – besorgte ich mir das 2020 erschienene Buch KONSUM des Trendforschers CARL TILLESSEN. Auf 223 Seiten erklärt er uns, warum wir kaufen, was wir nicht brauchen und wie die Zukunft unseres Konsums aussehen könnte. CARL TILLESSEN nimmt uns mit hinter die Kulissen einer globalen Maschinerie, in der Erfolg auf Manipulation und Ausbeutung basiert.
Für den gebildeten Leser ist der Sachverhalt sicher nicht neu. Trotzdem hat das Buch oder besser gesagt, die Art wie TILLESSEN die Thematik beschreibt, etwas Zwingendes. Vielleicht ist es die Absenz des Reißerischen, wenn er in den nüchternen Worten eines guten Freundes die Welt und unser Verhalten beschreibt? Vielleicht, weil er sich selbst auch als Teil des Problems identifiziert? Und uns damit hilft, ihm gleich zu tun?
KONSUM, CARL TILLESSEN, Harper Collins Verlag, ISBN 978-3-95967-395-2
Sharon Berkal: Lieber Till, steigen wir gleich hart ein. Was ich wirklich als eine sehr starke Aussage in Deinem Buch empfand, ist, dass unser heutiger Überkonsum – ich weiß nicht mehr genau, wie du es betitelt hast – aber dass unser Überkonsum mit seinen sozialen und umweltverschmutzenden Folgen quasi der Zweite Weltkrieg unserer Generation ist. Was meinst Du damit?
CARL TILLESSEN: Ich glaube, dass es zu jeder Zeit kollektive Versäumnisse gibt, die große Schäden anrichten. Man nimmt es aber selbst gar nicht so war, weil man eben in seiner Zeit gefangen ist. Das sind Versäumnisse, bei denen die Welt rückblickend ganz fassungslos ist, wie man das überhaupt zulassen konnte. Im schlimmsten Fall erlebt man das noch, und die nachfolgende Generation stellt einen sogar noch persönlich zur Rede.
SB: Eine ganz starke Message, die zumindest mein Bewußtsein geschult hat.
CT: Wenn zukünftige Generationen sich mit globaler Ungerechtigkeit beschäftigen und sehen, wie die Menschen, die die Dinge herstellen, die wir tagtäglich kaufen, zum Teil leben mussten, werden sie schockiert sein. Und sie werden es nicht als Entschuldigung akzeptieren, dass die meisten von uns moderne Sklavenarbeit ja nur gekauft, aber nicht beauftragt hätten. Man wird uns fragen, was mit uns nicht stimmte. Warum wir in allen Bereichen unseres Leben so viel und in dieser Art konsumiert haben.
SB: Du schreibst, dass wir keine Verbraucher mehr sind, sondern nur noch Konsumenten. Früher hat man Sachen verbraucht und etwas Neues gekauft, wenn es leer oder kaputt war. Ab wann ist das gekippt? Ab wann sind wir Konsumenten geworden?
CT: Die einfachste Antwort auf die Frage, warum wir heute so viel mehr kaufen als früher, lautet: Weil wir es können! Mir hat neulich jemand erzählt, dass ein Hemd in den 50er Jahren auf heutige Verhältnisse umgerechnet rund 6.000 Euro gekostet hätte. Ich konnte diese Zahl nicht überprüfen, aber selbst, wenn es die Hälfte oder nur ein Drittel ist, zeigt es, worum es hier geht. Nur durch die Globalisierung und durch die Verlagerung der Produktion in Billiglohnländer sind die Dinge für uns so günstig geworden, dass wir sie überhaupt so schnell konsumieren können bzw. die Dinge nicht mehr verbrauchen müssen.
SB: Ein Teufelskreis?
CT: Aktuell, ja. Ich versuche in meinem Buch zu beschreiben, wie mit jeder Preissenkung auch die Wertschätzung für das Produkt sinkt und man eben noch weniger bereit ist, dafür Geld auszugeben als vorher.
SB: Aber ist da nicht auch eine gewisse Doppelmoral? Die Menschen wollen alle quasi nichts für ein Produkt bezahlen, aber sie selbst wollen für ihre Arbeit schon z.B. ein sehr gutes Gehalt. Sie geben sich einen anderen Wert als Anderen.
CT: Absolut, das ist ja das Bizarre. Also was Leute denken, was sie einfach bräuchten, z.B. welchen Firmenwagen, oder dass es ihnen nicht zuzumuten wäre, eine Geschäftsreise in der zweiten Klasse zu machen. Die Doppelmoral zeigt sich ja dann auch schon schnell, wenn einmal etwas selbst bezahlt werden soll. Die Firma muss zu Repräsentationszwecken das beste Auto überhaupt bezahlen. Aber der Anzug, der ja ebenfalls Teil der Repräsentation ist, der aber selbst bezahlt werden muss, der ist dann der 350-Euro-Anzug von der Stange. Da regiert dann der Geiz.
SB: Ich mochte an Deinem Buch auch sehr, dass Du Dich und Dein Verhalten nicht außen vor gelassen hast. Du positioniert Dich ganz klar als ein Teil dieser Konsumwelt. Das gibt dem Leser dann auch keine Chance sich selbst rauszunehmen. Was hast Du für Dich verändert?
CT: Es passiert etwas mit einem, wenn man sich das Thema in all seiner Breite und Tiefe bewusst macht. Es sinkt einfach noch tiefer in das Bewusstsein ein. Meine stärkste Veränderung? Ich bin konsequenter geworden. Ein Beispiel: Früher hätte ich mir meine Designer-Jacken und -Hosen richtig was kosten lassen, wäre aber dann losgerannt und hätte mir einen Dreierpack Unterhosen bei irgendeinem Fast-Fashion-Anbieter gekauft. Diese Art von Ausnahmen, die ich früher in vielen Bereichen gemacht habe, lasse ich mir nicht mehr so durchgehen.
SB: Das heißt, wenn man wirklich konsequent in seinem Konsum ist, kauft man jetzt die Unterhosen bei Schiesser oder ähnlich?
CT: Genau. Das mache ich jetzt auch. Ich versuche immer weniger von diesen Ausnahmen zu machen, die fast alle machen. Zum Beispiel viele der sogenannten „Prenzlauer-Berg-Eltern“, die für sich selbst so ganz bewusst sind. Bei ihrer eigenen Kleidung muss alles fair und organic sein. Aber weil ihre Kindern so schnell aus allem rauswachsen, kaufen sie für die den allerletzten Dreck von irgendwelchen Fast-Fashion-Anbietern.
SB: Müssten wir dann nicht der Realität ins Auge blicken, dass wir vielleicht alle doch nicht so wohlhabend sind, wie wir immer denken? Denn man kann sich von diesem Überkonsum ja sehr viel leisten, weil er einfach so günstig ist. Ich würde mir jetzt wahrscheinlich nicht fünfmal in der Woche Unterhosen von Schiesser für 20 Euro das Stück kaufen. Die halten sicher ein Leben lang, aber bei einer neuen Garderobe Unterwäsche würde/müsste ich dann eher abwägen, was ich sonst noch extra will. Denn ökologisch korrekt hergestelltes Essen kostet Geld. Die Putzhilfe kostet Geld, wenn man einen fairen Lohn bezahlt. Und dann noch all die Belastungen von Miete, Versicherungen, Kindergartenplatz etc... Klar gibt es genügend Menschen in Deutschland, die so viel Geld haben, dass es egal ist, aber en gros verdienen viele zwar gut, können aber diesen extremen Wohlstand auch nur so leben, weil wir eben für viele Dinge nicht den wahren Preis bezahlen. Oder?
CT: Ja, absolut. Obwohl ein besserer Umgang mit den Arbeitern in den Fabriken und der Umwelt für uns gar nicht so viel teurer wäre. Zum Beispiel bei der Kleidung, die wir kaufen, kommen meist nur zwei Prozent dessen, was wir bezahlen, bei denen an, die das nähen. Man kann sich ausrechnen, dass, selbst wenn sie das Doppelte bekommen, es für uns hier kein sprunghafter Preisanstieg wäre.
SB: Du schreibst auch über die irrationalen Effekte, die bestimmte Preise bei uns auslösen. Zum Beispiel im Zusammenhang mit dem hybriden Konsums, also dass wir entweder ganz billig oder ganz teuer kaufen.
CT: Ja, ich bringe dieses Phänomen mit einem psychologischen Experiment von Brian Knutson zusammen. Der hat ein Experiment gemacht, bei dem er die Gehirnströme von Probanden gemessen hat, denen begehrliche Produkte wie z.B. Pralinen oder Autos gezeigt wurden. Beim Anblick dieser Produkte wurde das Belohnungszentrum des Gehirns aktiviert. Dann wurde der Preis der Produkte eingeblendet. Dieser aktivierte den Bereich des Gehirns, der normalerweise aktiviert wird, wenn wir physischen Schmerz empfinden. Kurz gesagt, der Preis löst bei uns Schmerzen aus. Auf die Geschichte mit den Unterhosen übertragen heißt das: Der entscheidende, der fundamentale Unterschied des Dreierpacks Unterhosen des Fast-Fashion-Anbieters zu einem soliden Produkt ist, dass er so wenig Geld kostet, dass wir bei seinem Kauf gar keinen Schmerz empfinden. Wir müssen nicht darüber nachdenken, ob wir auf etwas anderes verzichten, wenn wir die Billigunterhosen kaufen. Bei der teuren Unterhose ist das anders.
SB: Aber warum stoppt dieses System dann wieder bei Produkten, die vielleicht 1.500 Euro oder viel mehr kosten? Da müsste es ja die ganze Zeit lärmen im Kopf?
CT: Das ist nochmal ein ganz anderer Effekt. Und gerade bei Luxus. Die Schiesser-Unterhose macht uns noch nicht zu einem anderen Menschen, aber wenn wir jetzt z.B. in einem BMW sitzen oder die neue Handtasche von Louis Vuitton ausführen, dann fühlen wir uns gleich als ein ganz anderer Mensch. Das Gefühl von Belohnung, das es in uns auslöst, ist so überwältigend, dass es das mit dem Preis verbundene Schmerzempfinden einfach ausschaltet.
SB (lacht): Man müsste also die Schiesser-Unterhose so transformieren und gut verkaufen, dass man sich darin wie ein Hengst fühlt, wenn man die anhat. Schiesser, wir helfen Ihnen, melden Sie sich!
CT: Bestimmte Produkte machen etwas mit unserer Selbstwahrnehmung. Es sind aber nur ganz wenige Marken außerhalb des Luxussegments, die auf diese Weise Begehren kreieren können. Den meisten Mittelklasse-Produkten, die sich jeder Zweite irgendwie so leisten kann, gelingt das nicht. Da gibt es wenige Ausnahmen, wie z.B. Nike. Das ist für viele Leute eine echte Marke, eine starke Marke, die ihnen auch ein starkes Gefühl von Zugehörigkeit und von Status vermittelt, obwohl sie ja eigentlich preislich recht affordable ist.
SB: Jetzt dürfen wir aber bei Nike nur nicht anfangen über die Produktionsbedingungen zu sprechen, denn dann würde die Marke sicher herausfallen. Aber was ist die psychologische Auswirkung dieses Überkonsums?
Carl Tillessen: Darüber nachzudenken ist tatsächlich spannend. Neben ethischen Überlegungen, wie Umwelt- und Sozialverträglichkeit, gibt es nämlich auch psychologische Argumente gegen Überkonsum. Neuere Studien zeigen, dass der Überkonsum, den wir in breiter Masse leben, uns tatsächlich unglücklich macht. Er macht uns unzufrieden auf eine Art und Weise, die wir selbst nicht bemerken oder die für uns nicht zu durchschauen ist. Wir kaufen immer öfter Dinge, die wir dann aber immer seltener nutzen, in Betrieb nehmen oder uns aneignen. Und genau das ist das Problem. Wir sehen etwas, haben Lust, es zu kaufen und tun das dann auch. Das gibt uns auch einen kurzfristigen Freude-Kick, der uns vermittelt, dass wir das gut gemacht haben. Unsere Stimmung ist aufgehellt, der Dopamin-Pegel steigt... Wenn wir unsere Einkäufe dann aber nicht benutzen, fällt der Dopamin-Pegel sofort wieder steil ab. Sogar unter das Normalniveau, so dass wir eben noch ein stärkeres Bedürfnis haben, gleich den nächsten Kauf zu tätigen. Wir durchschauen es nicht, werden immer unzufriedener, konsumieren noch mehr, werden noch unzufriedener... Es ist eine Spirale, in die wir immer tiefer hineingeraten.
Sharon Berkal: Vielen Dank für das Interview! Ich hätte noch so viele Fragen, ich glaube, wir müssen uns noch einmal treffen... wenn es wärmer ist!
Liebe Leser, holen Sie sich das Buch und lassen Sie sich zu einem bewußteren Konsum inspirieren!
Carl Tillessen by Martin Mai
Zum Autor:
Carl Tillessen ist studierter Betriebswirt und Kunsthistoriker. 1997 gründete er das Berliner Modelabel FIRMA. Als Kreativdirektor und Geschäftsführer entwickelte er nicht nur 17 Jahre lang die Kollektion, die weltweit vertrieben wurde und zahlreiche Preise gewann, sondern auch sechs eigene Läden, einen Onlineshop und eine Kosmetiklinie. Heute ist Tillessen Teilhaber und Chefanalyst beim Deutschen Mode-Institut und berät renommierte Firmen aus der Branche. Seine kürzlich erschienenes Buch KONSUM ist gerade in die SPIEGEL-Bestsellerliste eingestiegen.
Das Buch KONSUM ist im Harper Collins Verlag erschienen.