von Kora Johanns / Ticket B
Anfang der 1930er Jahre baute der damals noch nicht so berühmte Architekt Ludwig Mies van der Rohe ein „kleines bescheidenes Haus“ am Berliner Obersee. Es wurde von Karl Lemke, Inhaber einer grafischen Kunstanstalt, für sich und seine Frau in Auftrag gegeben. Nur zwölf Jahre wohnte das Ehepaar darin, bevor es durch die Rote Armee vertrieben und enteignet wurde. Heute steht das Kleinod der klassischen Moderne als „Mies van der Rohe Haus“ Besuchern aus aller Welt offen.
Als im Bauhaus-Jahr 2019 alle wichtigen deutschen Bauten der Moderne in der „Grand Tour“ gleichen Namens zusammengefasst wurden, blieb das, nach dem Ehepaar Lemke benannte, Haus am Obersee außen vor. Vielleicht lag es an seiner dezentralen Lage im Berliner Stadtteil Alt-Hohenschönhausen, vielleicht an der fehlenden touristischen Infrastruktur oder daran, dass das Haus für ein kinderloses Ehepaar im Vergleich zu den bekannteren Bauten des Architekten eher unspektakulär daher kommt und scheinbar seine zeitlosen Entwurfsprinzipien nicht widerspiegelt. Während die Villa Tugendhat in Brünn und der Barcelona-Pavillon einen sehr opulenten Umgang mit Materialien und Konstruktion zeigen, ist das Haus Lemke eher ein Low-Budget-Projekt.
Ein „kleines bescheidenes Haus“ wünschten sich die Bauherren mit einer großzügigen Verbindung zum Garten. Ludwig Mies van der Rohe entwarf einen eingeschossigen, L-förmigen Bau mit 160 m² Grundfläche, der sich mit bodentiefen Fenstern einem kleinen privaten Hof zuwendet. Die schlichte Fassade besteht aus klassischen Mauerziegeln. Der Grundriss ist mit Wohn-, Arbeits- und Schlafzimmer eher konventionell, aber die großen Fensterwände spiegeln sein Konzept des Zusammenspiels von Offenheit und Geschlossenheit wider. Trotz der eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten der Bauherren ist das Haus großzügig und offen. Statt teurer Materialien und der für Mies typischen frei stehenden Wandscheiben äußert sich Luxus hier in Form von Nähe zur Natur. Der Übergang vom Innenraum in den Garten ist ebenerdig. Über die Wohnterrasse und eine locker bepflanzte Rasenfläche rückt das Innere des Hauses an den von Herta Hammerbacher nach Ideen von Mies kunstvoll gestalteten Garten heran. Die Qualitäten von Haus und Garten und die stimmigen Proportionen der Räume erschließen sich dem Besucher sofort – auch ohne architektonische Vorbildung.
Ludwig Mies van der Rohe wird 1886 in Aachen geboren. Nachdem er die Gewerbeschule Aachen absolviert hat, arbeitet er von 1905-07 als Möbelzeichner in der Werkstatt von Bruno Paul in Berlin. 1908 wird er Mitarbeiter in Peter Behrens' Architekturbüro und macht sich 1912 selbständig. In den frühen Zwanziger Jahren macht Mies vor allem durch seine Stahlbeton- und Glasbauten von sich reden. 1926/27 ist er Leiter der Werkbundsiedlung Weißenhof in Stuttgart, danach wird er Vizepräsident des Deutschen Werkbundes bis 1933. Von 1930 bis 1933 übernimmt er außerdem die Leitung des Bauhauses in Dessau und Berlin.1938 emigriert er in die USA und eröffnet ein Architekturbüro in Chicago. Im selben Jahr wird er Direktor der Architekturabteilung des Illinois Institut of Technology und verwirklicht in den folgenden Jahren zahlreiche Bauprojekte. Er stirbt 1969 in Chicago.
Das Haus Lemke ist Mies van der Rohes letzter Bau in Deutschland vor seiner Emigration in die USA. 1933 ziehen Martha und Karl Lemke dort ein. Nach nur zwölf Jahren werden sie durch die Rote Armee vertrieben und kurze Zeit später enteignet. Das Paar siedelt nach West-Berlin um und kann mit anwaltlicher Hilfe zumindest seine Möbel retten. Diese werden per Testament dem Berliner Kunstgewerbemuseum vermacht. Als das Haus nach vielen Jahren Nutzung durch die sowjetische Besatzungsmacht und das Ministerium für Staatssicherheit der DDR vom Bezirk zurückgewonnen und unter dem Namen „Mies-van-der-Rohe-Haus“ der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, sind Haus und Garten bis zur Unkenntlichkeit überformt. Und die Möbel als museale Ausstellungsstücke nicht nur aus konservatorischen Gründen unerreichbar. Die heutige Museumsleiterin Wita Noack übernimmt das Haus 1992 und macht damals die Not zur Tugend. Sie entwickelt ein neues Nutzungskonzept als Ausstellungsort für moderne Kunst. Sie will kein „Alte-Damen-Handtaschen-Programm“ in dem Gebäude, sondern Möglichkeitsräume für Künstler schaffen. Über 400 Ausstellungen hat das Haus seit seiner Eröffnung beherbergt und erstrahlt seit der Generalsanierung Anfang der 2000er Jahre auch wieder in altem Glanz.
Das Haus und sein Konzept haben Erfolg – zu viel vielleicht. Seit einigen Jahren macht sich die Leiterin Gedanken darum, wie man eine geeignete Infrastruktur für die vielen Besucher schaffen und den musealen Anforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht werden kann. Denn bisher besteht die Institution ausschließlich aus dem Haus selbst, welches Denkmal, Ausstellungsort, Verwaltung und Besucherräume vereint. Ein Erweiterungsbau auf dem Grundstück könnte das Haus entlasten und Raum bieten für Verwaltung, Café, Garderobe und eine Bibliothek. Ein Mies-Kompetenzzentrum könnte der Ort sein – und das Haus Lemke als Ganzes für Besucher erfahrbar machen.
Karl Lemke kaufte damals ein Doppelgrundstück für den Bau – genug Platz wäre also vorhanden. Die Idee einer Erweiterung wird dennoch kontrovers diskutiert. Sie hat viele Befürworter, aber der Denkmalschutz steht ihr kritisch gegenüber, sodass das Konzept nach fünf Jahren immer noch in der Phase von Sondierung und Überzeugung weilt. Mit dem Projekt „Mies goes Future“, in dem bekannte Stimmen der Kunstszene und Mies-Kenner filmisch interviewt werden, findet die Idee Verbreitung und sammelt Unterstützer. Mit der Hoffnung, dass der Chor der Befürworter irgendwann so groß ist, dass er nicht mehr überhört werden kann.
Seit dem 19. Mai 2021 ist das Mies-van-der-Rohe-Haus wieder für Besucher geöffnet und Sie können sich selbst ein Bild von dem „einmaligen Dreiklang von Architektur, bildender Kunst und gestalteter Natur im Geist der Moderne“ machen. Ein besonderes Ereignis erwartet Sie am 8. August: zum alljährlichen Sommerfest bietet sich die Gelegenheit, Haus und Garten in lockerer Atmosphäre voller Leben zu erfahren.
Unsere Architektur-Kolumne BAUKUNST entsteht in Kooperation mit TICKET B – einem Team aus Architekten, Professorinnen, Dozenten und Fachautorinnen, die Ihnen spannend und authentisch zeitgenössisches Baugeschehen in Deutschland mit Führungen und Reisen vermitteln. Mit vielschichtigem Bild auf Stadt und Bau lädt TICKET B zu neuen Sichtweisen auf Architektur ein. Neben Entwurf und Konzept werden auch immer gesellschaftspolitische sowie historische Zusammenhänge beleuchtet, die das Thema Architektur auch für den Laien gut erschließen und zeigen was Bauten meist sind: Zeitzeugen. Mehr zu TICKET B und den aktuelle Führungen und Reisen finden Sie hier: